Produkt Kulinarisches Erbe
Bündner Rohschinken
Charakteristika
Bündner Rohschinken ist keine geschützte Bezeichnung, der Name wird aber ausschliesslich für Rohschinken verwendet, der in den klimatisch geeigneten Regionen des Kantons Graubünden luftgetrocknet wurde.
Die Herstellung des Rohschinkens ist ebenso aufwändig und zeitintensiv wie diejenige des Bündnerfleisches. Auch hier sind Pökeln, Pressen und Lufttrocknen die zentralen Arbeitsschritte. Alles in allem dauert es etwa 5 - 7 Monate, bis der saftige Bündner Rohschinken serviert werden kann. In dieser Zeit verliert das ursprüngliche Stück Fleisch 45 bis 55 Prozent an Gewicht. Während des Produktionsprozesses wird das Fleisch in handwerklichen Betrieben rund 70 Mal in die Hand genommen.
«Um ein wirklich gutes Endprodukt zu erhalten, ist die Qualität des Fleisches das A und O», schickt ein Produzent voraus und präzisiert: «Optimal ist das Fleisch eines älteren, etwa 12-monatigen Alpschweines, das idealerweise mit Gerste, Schotte, Gras und/oder Heublumen gefüttert wurde.» Für den Rohschinken wird das beste Stück des Schweinestotzens verwendet. Seit jüngerer Zeit wird die Schwarte abgeschnitten, das Fleisch ist so magerer und braucht für den letzten Arbeitsschritt – das Lufttrocknen – weniger lange. Allerdings hat es auch etwas weniger Geschmack.
In einem ersten Arbeitsschritt wird das frische Fleisch gepökelt, am besten mitsamt dem Knochen, denn dieser sorgt für zusätzlichen Geschmack. Beim Pökeln handelt es sich um eine altbekannte Konservierungsmethode, nämlich um das Haltbarmachen durch Salzen. Der besuchte Produzent verwendet dafür Meersalz sowie etwas Salpeter, der das Umröten unterstützt. Zusätzlich werden Gewürze wie Wacholder, Lorbeer, Fenchelsamen, Pfeffer oder Knoblauch beigegeben. Der Metzger reibt das Fleisch mit dieser Gewürzmischung ein. Damit das Fleisch die Gewürzmischung gleichmässig aufnimmt, muss das Fleisch, das in einem Chrom- oder Plastikbehälter geschichtet wird, alle 2 Tage gedreht werden. Auch die Temperatur ist wichtig: Sie sollte rund 5 Grad betragen. Mit der Flüssigkeit, das es in dieser Zeit verliert, wird das Fleisch immer wieder von neuem eingerieben. Das Gewürz wird sparsam verwendet. Es soll den Fleischgeschmack unterstützen, aber nicht dominieren. Deshalb wird es nach dem Pökeln auch wieder abgewaschen.
Nach etwa vier Wochen Pökeln ist das Fleisch optimal auf den nächsten Schritt vorbereitet: das Trocknen. Dafür wird das Fleisch in einem Netz während 4 bis 5 Monaten im Trocknungsraum aufgehängt. Die klimatischen Bedingungen müssen genau stimmen. Als Faustegel gelten eine Temperatur von 8 bis 12 Grad sowie eine relative Luftfeuchtigkeit von 75 Prozent. Diese Bedingungen sind nicht überall zu finden. Es ist erst auf über 800 Meter über Meer überhaupt möglich, auf natürliche Weise zu trocknen, ideal sind die Bedingungen bei 1200 bis 1300 Metern über Meer. Die Feinregulierung kann über das Öffnen und Schliessen der Fenster vorgenommen werden. Wenn die klimatischen Bedingungen richtig sind, bildet sich während des Trocknens an der Oberfläche des Schinkens ein weisser Edelschimmel. Ist dieser grau, ist es zu feucht; bildet sich kein Schimmel, ist es zu trocken. Der weisse Edelschimmel auf der Oberfläche leistet auch einen Beitrag zur Aromabildung des Endprodukts und schützt das Fleisch vor Oxidation. Der Schimmelbelag wird vor dem Verkauf meist abgebürstet. Während der Trocknungsphase werden die Fleischstücke je nach Grösse und Klima vier- bis fünfmal für etwa 48 Stunden gepresst. Dieses Pressen ist zum einen für die Form des Produktes verantwortlich und zum anderen für eine regelmässige Verteilung der Feuchtigkeit im Fleisch. Es verhindert die Bildung eines zu harten und trockenen Randes.
Kultur und Geschichte
Die frühesten schriftlichen Belege von luftgetrocknetem Schweinefleisch aus Graubünden stammen aus dem 18. Jahrhundert. Sie sind in diversen Reiseberichten zu finden. In der Publikation «Die Spezialitäten aus Graubünden» ist ein im Domleschg tätiger Hauslehrer aus den 1770er-Jahren zitiert: «Geräuchertes und an der Luft getrocknetes Rind-, Schaf- und Schweinefleisch findet man in allen Haushaltungen.»
Man kann davon ausgehen, dass die Bündner schon vorher Fleisch trockneten, um es so haltbar zu machen. Gemäss verschiedenen Quellen war diese Konservierungsmethode bereits im Hochmittelalter in der Schweiz verbreitet, als die Viehzucht zunehmend in den inneralpinen Regionen Überhand nahm.
Ein wesentliches kulturelles Kennzeichen für das Leben in den inneralpinen Regionen war bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein hoher Grad an Selbstversorgung. Die Bevölkerung in den Bergtälern war darauf angewiesen, für die entbehrungsreichen Wintermonate haltbare Vorräte anzulegen. Die Konservierungsmethoden waren ohne Kühlschränke und Tiefkühler, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Alltagsgegenständen geworden sind, auf das Salzen, Räuchern und Trocknen beschränkt. Und gerade für die letztgenannte Methode ist das Klima in den höher gelegenen, nicht zu feuchten Regionen mit guter Luftqualität ideal. So ist es auch kein Zufall, dass im Wallis, im Tessin und im Kanton Uri weitere luftgetrocknete Fleischspezialitäten zu finden sind.
Es ist anzunehmen, dass an den traditionellen Metzgeten im Spätherbst und Frühwinter weit mehr Schweine für Rohschinken als Rinder für Bündnerfleisch geschlachtet wurden, obschon der Rinderbestand ungleich höher war als jener der Schweine. Die Schweinezucht beschränkte sich aber vorwiegend darauf, «dass im Frühjahr junge Schweine (…) den Sommer über in Maiensäss und Alpen gemästet und dann im Herbst zum Hausbrauch geschlachtet werden», wie im historischen, geografischen und statistischen Werk «Gemälde der Schweiz. Der Kanton Graubünden» aus dem Jahre 1838 zu lesen ist. Die Aufzucht dagegen spielte eine untergeordnete Rolle. Das sah bei der Rinderzucht ganz anders aus. Vor allem «weil das angrenzende Italien für das hier gezogene Vieh einen nahen und sichern Absatz bietet», wie es im gleichen Werk zur «Rinderzucht» heisst. Überdies lieferte die «Zucht des Hornviehs» mit dem Gebrauch als Zugvieh und der Milchproduktion weitere Nutzungsmöglichkeiten. Wobei Schweinefleisch bis ins 19. Jahrhundert als kostbares Gut galt. Schweine essen das Gleiche wie die Menschen und waren von daher ein Konkurrent in der Nahrungskette. Erst als sich der Kartoffelanbau durchsetzte und zahlreiche Talkäsereien entstanden, die Schotte respektive Molke als Schweinefutter lieferten, begann man im grossen Stil Schweine zu züchten. Damit sank auch der Wert des Schweinefleisches.
Und so haben sich die Vorzeichen im 20. Jahrhundert geändert. Das Bündnerfleisch gilt heute als das kulinarische Aushängeschild des Kantons und stellt den Bündner Rohschinken produktionsmässig und vom Bekanntheitsgrad her in den Schatten.
Rohschinken und Bündnerfleisch, einst für den bäuerlichen Eigengebrauch hergestellt, wurden zunehmend an die Hotellerie verkauft und so zunehmend zu Feinkost und gefragten Delikatessen. Seit der 2000er-Jahre haben Bioschweine und (Bio-)Alpschweine zunehmend an Renommee gewonnen; diese alte Tierhaltung, früher der Normalfall, ist allerdings teuer geworden. Das Fleisch wird von wenigen, eher kleineren Betrieben verarbeitet und hat, entsprechend der Exklusivität, seinen Preis.
Vorkommen und Verbreitung
- Bündner Rheintal
- Surselva
- Viamala
- Mesolcina
- Calanca
- Mittelbünden
- Davos
- Prättigau
- Engadin und Südtäler
Der Bündner Rohschinken ist weit weniger bekannt als das Bündnerfleisch. Weshalb das so ist, erklärt uns ein Produzent aus Churwalden: «Der Rohschinken ist hauptsächlich für den einheimischen Markt bestimmt, während das Bündnerfleisch nicht nur ins Unterland, sondern sprichwörtlich in die ganze Welt hinaus exportiert wird. Überdies gibt es weit mehr Rohschinken- als gepökelte und luftgetrocknete Rindfleischprodukte. Die Konkurrenz ist folglich grösser.» Ein anderer Produzent aus Mittelbünden schätzt, dass in seinem Betrieb ein Drittel Rohschinken und zwei Drittel Bündnerfleisch hergestellt werden.
Verwendung
Der Bündner Rohschinken enthält viel Protein und nur wenig Fett. Das Fett ist als weisser Streifen im Fleisch gut sichtbar und eine wichtige Geschmackskomponente. Konsumiert wird der Rohschinken in dünne Tranchen geschnitten. Damit das luftgetrocknete Fleisch sein volles Aroma entfalten kann, lohnt es sich, den Rohschinken vor dem Essen aufgeschnitten und bei Zimmertemperatur eine Viertelstunde ruhen zu lassen.
Der Bündner Rohschinken passt hervorragend zu saftigen Melonen oder zu Spargeln. Er kann auch anstelle von Parmaschinken für Saltimbocca verwendet werden. Beliebt ist der Rohschinken auch als Sandwicheinlage.
Bündner Rohschinken ist mittlerweile das ganze Jahr über erhältlich. Spezielle Klimaanlagen, die die klimatischen Verhältnisse der Bündner Bergtäler simulieren, machen es möglich, die Fleischspezialität auch im Frühling und Sommer zu produzieren, wenn es für eine natürliche Lufttrocknung zu warm ist.