Alte Traditionen und neue Leidenschaften
«Früher bewirtschafteten hier viele einen kleinen Maisacker», sagt Stephan Stutz. «Die älteren Menschen im Domleschg erinnern sich sogar noch daran», ergänzt Michelle DeFalque Stutz. Das Paar – er Geologe, sie Musikerin und Künstlerin – wohnt seit rund einem Jahrzehnt in der Region. Das Haus oberhalb Almens haben die beiden ausgesucht, weil es genug Land bietet für ihre Passion: die Saatguterhaltung und -vermehrung.
So fing auch alles an, mit dem Mais, den sie heute Domleschger Mais nennen. Via Peer Schilperoord, Berggetreide-Pionier und ehemaliger Geschäftsführer von Gran Alpin, erhielten sie Saatgut für alte Sorten die im letzten Jahrhundert in Domleschger Dörfern gesammelt wurden. In ihrem grossen Garten begannen sie mit der Vermehrung des Saatgutes. Bald kam aber beim Paar der Wunsch auf, mehr daraus zu machen. Stutz: «Saatgut nur zu vermehren, ohne es zu essen, ist fast etwas schade.» Und so suchten sie Landwirte, die für sie Mais kultivieren. «Wir bezahlen für den Anbau, egal, wie hoch der Ertrag ist», sagt Stutz. So werde den Bauern das Risiko abgenommen.
Im Jahr 2022 wurden 0,7 Hektaren mit dem Domleschger Mais bepflanzt. Er ist verwandt mit dem Ribelmais, einfach gelber. Der getrocknete Maiskolben, der vor uns liegt, sieht anders aus, als das, was ich kenne: Er ist länger und dünner. Er hat gerade mal acht Reihen Maiskörner, also viel weniger als die Maiskolben, die wir im Supermarkt als Zuckermais kaufen. Wichtig ist: Er reift früher ab, perfekt für die Bergregion mit kurzer Vegetationszeit.
«Früher kochte man damit im Domleschg, nebst Polenta, Ribelmais, also den gebratenen und gesüssten Mais, der aus dem Rheintal bekannt ist», weiss Michelle DeFalque, «oder eine Art Mais-Milchreis namens Panig». Sie hätten die Körner anfangs selber gemahlen und Polenta gekocht. Bis eines Tages eine neue Idee reifte. Die beiden Pflanzenbegeisterten mögen sehr gerne Tortilla-Chips – und da war es logisch, dass sie sich auf den Weg machten, um zu schauen, ob der Domleschger Mais auch zu den knackigen Dreiecken verarbeitet werden kann.
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Ihr Glück, dass sie eine Firma fanden, die ihnen Chips nach traditionellen mexikanischen Methoden herstellt. So etwa werden die im Domleschg getrockneten Maiskörner auch nixtamalisiert. Dafür kocht man den Mais in einer Lauge – die Azteken, die diese Methode entwickelt haben, nutzten dafür Asche. Dank Nixtamalisation kann unser Körper einige Inhaltsstoffe vom Mais überhaupt erst aufnehmen. Doch auch Geschmack und Textur verändern sich. Wer schon Tortillas aus nicht-nixtamalisiertem Mehl geknetet hat, weiss, dass das eigentlich nicht geht, da der Teig brüchig wird.
Doch einen der wichtigsten Aspekte an diesem Maisprojekt haben wir bislang ausgelassen: nämlich die Ernte und wie diese ein ganzes Tal verbindet. Da gibt es keinen Mähdrescher, mit dem mal schnell durchgefahren wird. Vielmehr werden die Maiskolben alle von Hand geerntet. Und das ist auch der Punkt, an dem der Domleschger Mais zum Gemeinschafts-Projekt wird. Waren bei der ersten Ernte noch 10 Helferinnen und Helfer dabei, so kamen 2022 schon 60 Personen. «Es spricht sich herum», sagt Michelle DeFalque. Die Menschen im Domleschg seien mittlerweile stolz, auf ihren Mais. An ein bis zwei Wochenenden packen Männer, Frauen, Kinder an. Mit einem Erntedankfest im Winter freut man sich gemeinsam darüber, dass der hiesige Mais im Trockenen ist.
Bislang hatten DeFalque und Stutz Glück mit der Ernte: Totalausfällle sind ausgeblieben. Aber: Grundsätzlich neige der Domleschger Mais dazu, schnell zu knicken, so Stutz. Das bedeute, dass maschinelle Ernte schwierig wäre und dass je nachdem auch der Ertrag geringer sei. In ihrem Garten versuchen die beiden, die Sorten mit Auslese standfester zu machen. Denn ja, während sie das Maisprojekt neben ihren Jobs als Musikerin und Geologe betreiben, soll es dereinst weitergeführt werden – und um zu bestehen, ist dann wohl eine gewisse Rentabilität nötig. Denkbar sei, sagen die beiden, dass ein Bauer das Projekt einmal übernehme oder dass ein Verein gegründet werde. Auf jeden Fall, so hat es das Paar in bald zehn Jahren Versuchsanordnung bewiesen: Bündner Mais gedeiht und kann zu einer schönen und vor allem auch feinen lokalen Delikatesse mit einem Hauch Exotik verarbeitet werden.